Interfakultäre Koordinationsstelle für Allgemeine Ökologie (IKAÖ) |
Margret Schlumpf
Stefan Durrer, Kirsten Maerkel, Peter Schmid*,
Marianne Conscience, Manuel Henseler, Catharine Gaille, Melanie
Grütter, Ingrid Herzog, Sasha Reolon, Vreni Haller, Oliver
Faass, Eva Stutz*, Hubertus Jarry**, Wolfgang Wuttke**, Walter
Lichtensteiger
Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Universität
Zürich, Zürich, EMPA,* Dübendorf, Zürich. Schweiz
Abteilung Klinische und Experimentelle Endokrinologie**, Georg
August Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland
Neue Umweltchemikalien: Gemäss der Konsumentenorganisation
Colipa setzen sich Kosmetika aus über 10 000 Chemikalien zusammen,
deren Toxizitätsprofil zumeist wenig abgeklärt ist. Kosmetika
wie synthetische Parfümstoffe oder gewisse UV Filter werden über
die Haut aufgenommen und sind dann in Blut und Urin nachweisbar.
Von der Haut werden diese Substanzen abgewaschen und gelangen über
Abwasser und Kläranlagen in Gewässer und Wasserorgan-ismen,
und von dort in die Nahrungskette von Mensch und Wildtieren. Der
Mensch ist somit doppelt exponiert, über die Haut und über
die Nahrungskette. Kinder und Säugetierjunge können über
die Milch belastet werden. Bis heute gibt es nur wenige Indikatoren
von Belastungen durch neuere Chemikalien für Wildtiere, fast
keine für den Menschen. Vereinzelte Arbeiten berichten über
die Präsenz von Kosmetika, vorab synthetischen Parfümstoffen
und UV Filtern, in Fischen und in der Humanmilch. UV Filter werden
in zunehmenden Mengen (steigende Schutzfaktoren) als Sonnen- und
Produkteschutz eingesetzt.
Neue Wirkungen: Vertreter der chemisch heterogenen Gruppe von UV
Filtern wurden auf hormonelle Aktivität geprüft. In vitro
induzierten 8 von 10 Substanzen in MCF-7 Zellen Zellproliferation,
was heisst, dass sie hormonell- (Estrogen) aktiv sind. 6 UV Filter
waren auch positiv im akuten in vivo Test, der den Einfluss dieser
Chemikalien auf das Wachstum des unreifen Rattenuterus (im Vergleich
zu Estrogen) misst. Diese beiden Akut-Tests dienen nur der Identifikation
von Chemikalien als endokrin aktiv.
Sensitive Lebensphasen: Risikorelevant sind Langzeiteffekte endokriner
Disruptoren. Wegen der hohen Sensitivität von Entwicklungsprozessen
für Sexualhormone wurde die Wirkung von 4-MBC (4-Methylbenzylidene
camphor) und 3-BC (3-Benzylidene camphor) an Ratten der F1-Generation
untersucht, die während der prä- und postnatalen Ent-wicklung
und bis ins adulte Alter diesen Chemikalien exponiert waren. Der
Test zeigte für beide Substanzen eine deutliche Verringerung
der perinatalen Ueberlebensrate, eine verspätete Pubertät
bei den Männchen, und differente Gewichte der Reproduktionsorgane.
Genexpressionsmuster: Die Expression und Estrogen-Sensitivität
von spezifisch Estrogen-regulierten Genen war in den Reproduktionsorganen
und in Gehirnregionen, die für Sexualfunktionen relevant sind,
verändert. Parallel zu Veränderungen des mRNA-Expressionsmusters
wurden auch Konzentrationsänderungen der betreffenden Proteine
nachgewiesen. Verschiedene endokrine Disruptoren mit ähnlicher
Wirkung in Akuttests können nach unseren Daten teils ähnliche,
teils aber auch unterschiedliche Genexpressionsmuster bei Exposition
während der Ontogenese verursachen.
Risikobeurteilung: Niedrigdosiseffekte und Stoffgemische. Besonders
bei endokrin aktiven Fremdstoffen muss berücksichtigt werden,
dass Dosis-Wirkungsbeziehungen bei Langzeitexposition sich von
Akutdaten stark unterscheiden. In den akuten Tests ergibt sich
für 4-MBC ein Unterschied der Wirkungsstärke zwischen
körpereigenem Hormon (Estradiol) und Fremdstoff (4-MBC) von
2.4 x 106 in vitro (MCF-7 Zellen), bzw. 380’000 in vivo (uterotropher
Test). In der entwicklungstoxikologischen Studie reduziert sich
der Unterschied in der Wirkungsstärke Estradiol / Fremdstoff
auf den Faktor 50, d.h. der Fremdstoff 4-MBC, ist bei chronischer
Exposition wesentlich wirksamer relativ zu Estradiol, als in akuten
Testsystemen. Für 4-MBC wurde ein NOAEL (No Observed Adverse
Effect Level)) von 0.7mg/kg/Tag und für 3-BC ein LOAEL (Lowest
Observed Adverse Effect Level) von 0.23mg/kg/Tag ermittelt. 4-MBC-Konzentrationen
im Fettgewebe adulter F1-Tiere lagen beim 4-MBC-LOAEL (7 mg/kg/Tag),
im Bereich von Konzentrationen in Fischen. Einfache pauschale Hochrechnungen
zur Risikobeurteilung endokriner Disruptoren sind angesichts von
komplexen Expositionssituationen, Stoffgemischen, Niedrigdosiseffekten
und unterschiedlichen Wirkungsspektren nicht akzeptabel. Zu fordern
ist eine genaue vergleichende Analyse experimenteller Daten mit
internen Expositionsdaten und Erheben des NOAEL/LOAEL mittels hochempfindlicher
Endpunkte während sensitiver Phasen der zu testenden Spezies.
Solche Daten sind weder für Säuger noch für andere
Spezies derzeit verfügbar.